Schildkröte müsste man sein

Schildkröte müsste man sein.

Ihr wird ihre Lethargie nie übel genommen. 80-90% des Tages darf sie schlafen. Wenn sie es geschafft hat sich morgens irgendwann auszubuddeln ist das schon eine enorme Leistung. Dafür kann sie sich erstmal etwas Zeit lassen. Und wenn sie sich dann von dem anstrengenden Akt des Aufstehens erholt hat, wird es wohl oder übel nötig etwas zu essen. Wenn sie es möchte. Wenn ihr heute danach ist. Denn sie ist ja eine Schildkröte. Wer nichts macht außer essen und schlafen, der braucht kaum Energie. Bei ihr beschwert sich niemand mit großen Tönen, sie falle vom Fleisch. Sie habe einen emotionalen Nervenzusammenbruch. Zu ihr sagt keiner "Kind, du musst was essen!" als wäre alle Welt plötzlich ihre Oma geworden.

Der Löwenzahn, welcher extra für sie gepflückt wurde, befindet sich am anderen Ende des Terrariums. Zu weit weg. Dann wohl doch nichts essen heute. Ist ja auch egal. Sie dreht sich um und beginnt den langsamen Prozess sich wieder einzubuddeln.

Und alle freuen sich. Vielleicht wird ihr der Löwenzahl noch näher getragen, damit sie doch etwas isst. Weil es da ist. Ist ja auch egal. Niemand fragt sich ob sie vielleicht depressiv ist, weil sie so lethargisch durchs Leben geht. Oder eben nicht geht. Rumsitzt und nichts tut, den ganzen Tag. Sie muss sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, ob sie genügen Impact hat, ob sie den Sinn des Lebens vielleicht doch immer falsch verstanden hat. Sie verbringt keine Zeit damit Dinge zu lernen, nicht weil sie es je wieder brauchen wird, sondern für die "Experience". Damit sie weiß, was es bedeutet für etwas hart zu arbeiten. Es ist ihr egal, ob sie zu viel Sport macht oder zu wenig. Es ist ihr egal, ob sie sich um ihr Aussehen bemüht, weil sie sonst von der Gesellschaft kaum wahrgenommen wird, oder ob sie sich absichtlich wenig um ihr Aussehen bemüht um aller Welt zu zeigen, dass sie mehr ist als ihr Äußeres, nur um festzustellen, dass es eh niemanden interessiert.

Sie macht sich keine Gedanken darüber was es bedeutet "verliebt" zu sein. Eines Tages wird sie geschlechtsreif. Wenn dann zufällig ein Männchen in der Nähe ist, wird sie sich vielleicht paaren und ein paar Eier legen und dann ist das mit der Fortpflanzung auch erledigt. Und wenn nicht, ist auch egal. Sie wird nie die Erfahrung machen sich in eine andere Schildkröte so dermaßen zu verlieben, dass sich alles für sie ändert, dass sich alles in ihrem Leben plötzlich nach ihm orientiert und im Vergleich einfach verblasst. Dass es plötzlich nichts anderes mehr gibt. Dass einfach alles sonst verschwindet und unwichtig wird. Nur um festzustellen, dass sie damit alleine ist. Und sie damit alleine leben muss. Und sie weiß, dass, obwohl das Leben weiter geht, es für immer überschattet sein wird von einer Illusion von dem, was es hätte sein können.

Schlafen und Essen. Kein was wäre wenn. Kein du musst doch. Kein du solltest doch. Kein Lernen mit Kritik umzugehen. Kein sich konstant verbessern und weiterentwickeln müssen. Warum auch. Ist ja auch egal.

Schildkröte müsste man sein. Am besten Babyschildkröte. Die sind auch noch süß.