Einzelkinder
Er: Und, hast du dich schon beworben?
Ich: Nein.
Er: Ich habe mich neulich einfach bei mehreren Stellen bei Amazon beworben, um mal rauszufinden wie der Bewerbungsprozess da so abläuft.
Es folgt eine ausführliche Erzählung über seine Erfahrungen im Bewerbungsprozess bei Amazon. Danach reden wir über seine Berufsperspektiven allgemein. Und darüber was er gerne machen möchte. Und warum sein Leben so schwer ist. Und warum ihm aber doch alles so leicht fällt.
Ich sitze mit einem Bekannten in einer Bar und tue so, als würde ich mich am Gespräch beteiligen.
Einzelkinder irritieren mich ohne Ende.
Er kann nichts dafür. Er ist aufgewachsen in einer Welt, in der alles, was er gemacht oder gesagt hat, einfach ZU wichtig war. Eine Welt, in der sich wirklich alles um ihn dreht. Jeder Erfolg wurde nicht gefeiert, sondern jubiliert. Jeder Fehltritt wurde nicht gerügt, sondern zutiefst missbilligt.
Fast jedes Gesprächsthema wird mit einer Frage eingeleitet. Damit niemand behaupten kann, er interessiere sich nicht für andere.
Er: Schreibst du noch Klausuren?
Ich: Nein.
Er: Ich schreibe auch nur noch drei. Ich bin so froh, wenn die endlich rum sind. Ich merke einfach langsam, dass Klausuren mir nichts mehr bringen. Die meisten Themen interessieren mich einfach nicht genug und am Ende lernt man auch nur systematisch auf Prüfungsfragen und hat das dann hinterher direkt wieder vergessen.
Ich überlege mir währenddessen, wie einfach es wäre eine KI zu entwickeln, die mich in diesem Gespräch ersetzt. Die von mir erwarteten Gesprächskompetenzen halten sich in Grenzen.
Ja, ich könnte mir mehr Mühe geben. Ich habe heute aber auch echt einfach einen schlechten Tag. Normalerweise würde ich fortdauernd interessiert wirken, Rückfragen stellen, hin und wieder eine eigene Meinung beisteuern. Aber heute habe ich einfach keine Lust. Heute beschränke ich mich nur auf „ja“, „nein“, „mhm“ und „ach echt?“. Das ermöglicht mir eine ganz neue Erkenntnis:
Es macht absolut. Keinen. Unterschied.
Ich verstehe ja, dass der Mensch allgemein egozentrisch ist. Die meisten von uns denken in erster Linie an uns selbst. Man könnte jetzt sagen, dass das unser natürlicher Überlebensinstinkt ist. Wir müssen uns selbst in das Zentrum unseres Weltbilds setzen. Man könnte auch sagen, dass uns die aktuelle westliche Gesellschaft, die auf ein kapitalistisches Fundament gebaut ist, zunehmend in den Individualismus treibt.
Aber wenn es für dich gar keinen Unterschied macht, ob du mit einem aktiven Gesprächspartner redest, oder mit einer low-level KI, die in regelmäßigen Abständen Bestätigungstöne von sich gibt, dann sinkt mein Respekt für dich enorm.
Wir sind keine Tiere mehr, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen müssen und rein von unseren Trieben gesteuert sind. Und so sehr ich auch gerne alles auf den Kapitalismus schiebe, leben wir doch in einer Umgebung in der wir auf unsere Gesellschaft und Systeme und auf ein Miteinander angewiesen sind. Kurz: um das soziale kommen wir nicht rum.
Menschen können extrem spannend sein. Hinter jeder Person steckt irgendwo eine Geschichte, die nicht in die Schublade passt, in die er sie gesteckt hat. Die die Schubladen in seiner eigenen Welt, auf die er so fixiert ist, vollkommen sprengen und neu bilden könnte. Aber Voraussetzung dafür, um an diese Geschichten dran zu kommen, ist echtes, authentisches Interesse.
Doch er erzählt mir weiter von irgendwelchen Gehältern, die ihm angeboten werden. In einer Art, die suggeriert, es wäre selbstverständlich, dass das Gehalt für jeden die Priorität Nr. 1 hat in der Berufswahl.
Er ist nicht eine bestimmte Person. Er ist auch nicht alle Einzelkinder. Er ist nur die Erfahrung, die ich schon mit vielen Einzelkindern gemacht habe. Vielleicht ist das eine Schublade von mir, die mal gesprengt werden müsste.